Köln- Für mich ist heute ein sehr trauriger Tag, denn Ostfriesland und meine Familie haben einen Helden und großen Baumeister verloren. Christoffer Okken. Er verstarb heute am 23.02.2016 im Alter von 77 Jahren. Zeit seines Lebens hat er als Handwerker und Maurer, bis fast auf den letzten Tag seines Lebens gearbeitet.
Täglich verabschieden wir Musiker, Schauspieler,Künstler oder Politiker. R.I.P steht da dann geschrieben. Von den kleinen Leuten, Handwerkern, welche den Menschen eigentlich ihre Lebensgrundlage erschaffen, sprechen wir selten. Sie bleiben unerwähnt. Architekten eines Hauses finden immer Erwähnung. Der Maurer ward vergessen. Selbst deren Grabsteine geben keine Auskunft über ihr Werk.
Christoffer Okken war körperlich ein klein gewachsener Mensch. Er war nicht der Typ heldenhafter Hüne. Und doch war er unser Held. Wenn er irgendwo am Haus auf dem Gerüst stand, hat man ihn fast übersehen. Als ich das erste Mal vor ihm stand, habe ich ihm die außergewöhnliche Kraft und Stärke nicht zugetraut, die er in der Folge an den Tag legte. Ich war eher geneigt, ihm den Eimer mit dem Werkzeug aus der Hand zu nehmen und zu sagen: „Komm Alter, ich trage dir das.“
Christoffer war mein persönlicher Held, weil er die Dinge ohne zu zögern anging. Wenn man vor einer Ruine mit elf Meter hohen Mauern steht, erscheint es dem Laien, wie der Kampf von David gegen Goliath. Christoffer nahm in seinem Leben viele dieser Kämpfe furchtlos an. Einige Häuser in Ostfriesland und im Dorfkern von Loquard Zeuge seines Könnens.
Er war bekannt im Rheiderland, Emden, Neermoor und in der Krummhörn. Ich denke, dass niemand bis heute genau weiß, wie viele Häuser er in seinem Leben gebaut hat. Denn ich weiß aus seinen Geschichten, dass auch Häuser im Ruhrgebiet seine Handschrift tragen.
Denn wie viele Handwerker aus Ostfriesland ging Christoffer in seinen jungen Jahren dort hin, wo es etwas zu mauern gab. In den von ihm gebauten Mauern wohnen die Menschen vielleicht noch in hundert und mehr Jahren. Mein Haus ist meine Burg. Ohne Haus, oder eine Wohnung in einem Haus, fehlt uns die Basis einer sicheren Lebensgrundlage.
Mauern bieten Schutz und Komfort für unsere Familien. Zelte und Blechhütten würden wir als unbedarfte Nichthandwerker vielleicht noch hinbasteln können. Doch wir hätten bei den klimatischen Bedingungen in Deutschland kaum die Chance, in einer Blechhütte zu überleben. Deshalb sind Maurer und Mauern wichtig.
Doch messen wir den Mauern die wahre Bedeutung zu? In der Regel sind Mauern für die meisten von uns die selbst verständlichste Sache der Welt. Stadtmenschen betrachten Mauern gleichgültig. Über Fertigbau und Beton haben wir den Blick auf den Wert der Mauer verloren. Die Entstehung eines Hauses in der Stadt ist heute eine Selbstverständlichkeit.
Menschen, die ein gemauertes Haus besitzen, schätzen den wahren Wert des Handwerks.
Unser Haus ist ein Denkmal. Es ist ein Zeichen und Relikt einer Kultur und eines Lebensstils. Ein Denkmal aus dem 1700 Jahrhundert gibt uns Auskunft über das Leben und die Geschichte, sowie die Entstehung einer Kulturlandschaft. Wenn ein Haus fest gemauert ist und gepflegt wird, bleibt es auch in der die Zukunft von Bedeutung.
Mit unserem Denkmal in Ostfriesland sind wir selbstverständlich nicht allein. Das Land Niedersachsen pflegt das Denkmal. Im Jahre 2014 lernte ich Christoffer kennen. Er kam uns zur Hilfe. Unser 243 Jahre altes Haus hatte kaputte, eingestürzte Mauern. Das damals 75 Jahre alte ostfriesische Genie brachte die Ruine bis zum Februar 2016 in die Neuzeit zurück.
Ich habe selten einen Menschen kennengelernt, der so bescheiden und unkompliziert seine Arbeit verrichtet. Ich habe neben meinem Opa, der von Beruf Steinmetz war, keinen Menschen kennengelernt, der Steine und deren Wesen so gut kannte wie Christoffer.
Alte Ziegelsteine sind etwas Besonderes. Jeder Ziegel hat, da es sich um ein Naturmaterial handelt, eine unterschiedliche Form. Unsere Ziegel, auch Backsteine genannt, sind durch hunderte von Jahren den Witterungseinflüssen ausgesetzt, teilweise in sich verzogen. So ist es ungemein schwierig alte Ziegel in einer Linie, also im Lot und in der Waage zu mauern.
Christoffer kannte sich mit Steinen aus und brachte unsere Mauern wieder ins Lot und in die Waage. Darüber hinaus hatte er aber auch Kenntnis von Dachstühlen, Fundamenten, Abstützungen. Er war einfach ein Unikat. Weise. Erfahren.
Ich weiß nicht, ob es euch auch so geht wie mir, wenn euch einmal im Leben ein Handwerker über den Weg gelaufen ist, der die Dinge einfach in die Hand nahm und etwas geschaffen hat, das einem ewig in Erinnerung bleibt. Das ist einfach das totale Glück.
Christoffer hat sein Leben lang, von der Ausbildung bis zum Tode gemauert. Einen Sommer lang standen wir beide jeden Tag auf der Baustelle und haben Hand in Hand Steine gemauert. Und an jedem Tag hat er mich geschafft. Seine Bewegungen sahen langsam und bedächtig aus, doch sein Arbeitstempo war immer so hoch, dass ich Abends platt wie eine Briefmarke ins Bett fiel.
Oft habe ich mich gefragt, wie man das überhaupt aushalten kann. Diese harte Arbeit. Ich habe diesen kleinen Ostfriesen, wenn er mir während der Arbeit seine Geschichten in ostfriesisch erzählte, einfach nur bewundert. Er wurde mir zum neuen Vorbild und mein Mentor.
Ja, ich habe mich richtig in den kleinen Mann verliebt. Erst war er der Maurer. Dann wurde er so etwas wie mein Ersatzvater, obwohl ich einen großartigen Vater hatte. Christoffer hat meine Dimension von Vater noch einmal erweitert. Durch seine Liebe zu meinen Träumen und meinen Plänen.
Meine Vorstellungen und die Aufgabe, die Ruine wieder aufzubauen, das war nichts Lapidares. Mein Onkel Fritz ist Mauer und hat 82 Jahre auf dem Buckel. Auch er ist ein Fachmann. Fritz stand 2014 vor meiner selbst erwählten Aufgabe und hat den Kopf geschüttelt.
Christoffer hat nie den Kopf geschüttelt. Höchstens, wenn ich es als Handlanger nicht geschafft habe, seine enorm hohe Schlagzahl mitzugehen.
Und dann wurde er mein Freund. Der alles für mich gab und für den ich alles gegeben hätte. Ich habe mich verliebt in seine Bescheidenheit, nichts anderes zu wollen, als eine gut sichtbare Arbeit zu leisten. Wenn ich ihn fragte:“Warum machst du das in deinem Alter noch? Die Maloche jeden Tag. Acht Stunden täglich mit 76 Jahren.“ Dann meinte er nur: „Ich muss ja mein Haus noch abzahlen.“ Das wollte ich ihm nicht wirklich glauben, doch es war schon wahr. Er hatte es mit siebzig Jahren gebaut.
Christoffer hat mir und ich denke, ihr kennt das, aus eurer täglichen Zusammenarbeitet mit anderen Menschen, einen Einblick in sein bescheidenes Leben gegeben. Das führte dazu, dass er mir noch einmal eine neue Perspektive des Lebens eröffnet hat. Bescheidenheit, Leistung und Selbstlosigkeit sind ein großes Glück und führen zu vollkommener Zufriedenheit. Davor steht die Arbeit. Schaffen. Wenn du nur denkst, passiert nichts. Wenn du es anpackst, geht es voran. Also nicht denken, sondern handeln. Und das tat er.
Sein Leben war handeln und schaffen. Anerkennung gewinnen, weil man etwas schafft. Das klingt lapidar. Anerkennung ist Beweggrund für Handwerker. Ich bin ja auch gelernter Handwerker und war immer stolz auf die Anerkennung. Lohnt es sich für die bloße Anerkennung zu schaffen? Ja, es lohnt sich. Anerkennung ist Lebenselixier.
Gute Handwerksleistungen sind eigentlich gar nicht mit Geld aufzuwiegen. Doch mehr als Geld darf der Handwerker kaum erwarten. Künstler, Musiker und Schauspieler erhalten weit aus mehr Anerkennung für ihr Lebenswerk. Einen Stern im Walk of Fame. Eine Wachsfigur bei Madame Tissot. Einen Oscar oder Bambi für das Lebenswerk.
So wie ich Christoffer kennen und lieben lernte, gibt es sehr viele Menschen, die genauso so traurig sind wie ich. Ein Gedanke tröstet mich. Es gibt etwas, das von Christoffer bleibt. In einigen Dörfern in Ostfriesland stehen Denkmäler und Häuser, welche die Handschrift eines großen Baumeisters tragen.
Jährlich kommen viele Touristen nach Ostfriesland und alle, die durch unser Dorf wandern, bewundern diese alten Mauern. Die schönen Häuser. An diesen Häusern steht selten etwas darüber, wer sie geschaffen hat. Bisher steht da nur, wann sie geschaffen wurden.
Mein Denkmal und meine Mauern haben einen Namen. Wenn es dann eines Tages komplett fertig ist, zeige ich euch auch ein Bild davon, oder lade euch auf ein Bierchen in Ostfriesland ein. Dann zeige ich euch genau, was der Christoffer alles vollbracht hat.
Und seht ihr das Schild an meiner Mauer:
„Christoffer Okken – Baumeister in Ostfriesland – Anno 2015“.
Christoffer und die Geschichte gehören in mein Tagebuch. Mir hilft es, die Trauer zu verarbeiten. Und vielleicht kannte ihn ja einer von euch. Oder hat ein Haus, einen Weg, eine Mauer, eine Garage, die vom kleinen sympathischen Baumeister aus Neermoor geschaffen wurde. Er ist in meinem Herzen und ich werde immer an ihn denken.
Meine Mauern sind Zeuge, dass es ihn gab. Ich wünsche ihm Ruhe und Frieden.