Nachdem ich bei YouTube ein Video von Charlotte Illinger sah, gab es für mich kein Zögern, in das angekündigte Konzert ins Alte Pfandhaus zu gehen. Ich hab es nicht bereut sondern bin erfreut, wieder eine neue, junge und begabte Jazzvokalistin kennengelernt zu haben – und nicht zuletzt auch ihre großartigen Musiker, allen voran der grandiose Pianist Jerry Lu. Sicher ist es ein Glücksfall, dass sich eine so junge Künstlerin mit einer ebenso „jungen“ Karriere gleich als Quartett vorstellt, welches sofort überzeugt und begeistert.
Der erfahrene Jazzfan erkennt bereits beim ersten Titel „It’s That Old Devil Moon“ die kreative Könnerschaft des Quartetts, mit der sich dieser 1940er Swingklassiker wegbewegt vom harmlos netten Wohlfühl-Swing zu einem facettenreichen, modernen Jazzstück.
Hat Charlotte Illingers Stimme häufig noch einen recht jugendlichen Klang, überraschte mich doch eine spezielle Reife, die sich aber noch mehr in der rein musikalischen Gestaltung ausdrückte, als in der Interpretation der Texte. Sie hat die jeweilige Komposition künstlerisch vollkommen im Griff und zeigt dies versiert und bereichernd in ambitionierten Improvisationen zu jedem Song.
In ihrer Herangehensweise dieser Improvisationen ist man erinnert an den Gesangsstil der „Vocalese“ – welche innerhalb des Jazz durch das Gesangstrio „Lambert Hendriks and Ross“ in den 1950s populär geworden ist. Auch beim reinen textlosen Scatgesang ist Charlotte näher an den hohen, sehr schnellen und schwierigen Noten der Annie Ross als bei den kraftstrotzend-dynamischen Scat-Salven einer Ella Fitzgerald.
Das Repertoire des Konzerts bestand hauptsächlich aus der Vorstellung ihres Albums „But Beautiful“ (erschienen Februar 2018) und einigen anderen Titeln. „I’m Oldfashioned“ von Jerome Kern war auch dabei. Handfester Jazz-Groove herrschte an diesem Abend vor – dazu trug auch maßgeblich der Saxophonist Paul Weller bei. Sein Spiel war immer furios, sozusagen am virtuosen Siedepunkt. Spannend waren gleich mehrere Duette von Charlotte und Weller, die ihr fantastisches, beidseitiges Timing zeigten. Saxophon und Stimme – oft im rasenden Rhythmus musizierend, wurden hier zur untrennbaren musikalischen Einheit.
Einige Balladen mehr hätte ich mir jedoch gewünscht an diesem Abend. Denn eigentlich ist es ja so, dass ein Sänger bei einer Ballade am intensivsten und unverwechselbar die eigene Seele und den Klang der Stimme offenbaren kann – und mit einer solchen Performance das Publikum am ehesten emotional zu fesseln vermag. Ich habe von 1967 bis 1990 Ella Fitzgerald oft in ihren Konzerten erlebt. Immer wenn sie eine Ballade sang, war die Konzentration auf sie am größten – als ob die Menschen ihren Atem anhielten.
Als Charlotte „I’m Oldfashioned“ ankündigte, freute ich mich, denn in der bisher einzigen Jazzballade des Abends, „But Beautiful“ („You Go To My Head“ war auch up-tempo arrangiert) zeigte sie, wie gut sie die schwermütige Stimmung dieses Songs klangvoll, gefühlvoll und ohne Larmoyanz musikalisch zu spiegeln wusste. Aber „I’m Oldfashioned“ sang Charlotte Illinger nicht als Ballade sondern nach einem Intro nahm sie das Stück total auseinander und intonierte es ultrajazzig wieder zusammen. Es ist besonders bei Jazzkünstlern immer der Ehrgeiz, Standards neu zu arrangieren und zu singen. Das ist auch gut so, denn sonst hätten wir keinen Jazz mehr, und Standards würden austauschbar in der Art klingen wie sie ein Michael Bublé singt – um nur ein Beispiel zu nennen.
Hatte man in dem Konzert zunächst nur wenige Songs von Charlotte gehört, war klar, dass sie sich kompromisslos dem Jazz verschrieben hat. Ein besonders strahlendes Highlight der vokalen Jazzperformance wurde die Horace-Silver-Komposition „Nica’s Dream“, die ich hier zum ersten Male gesungen hörte.
Im Wechsel mit dem atemberaubenden Jerry Lu scattete die Sängerin zu seinen wuchtigen Jazzakzenten. Im Solo zeigte sich der Pianist mit seinen hochartistischen, stürmischen Piano-Einschüssen in Bestform. Die drei Musiker kamen übrigens alle in gebührender Weise zum Zuge. In jedem Song gab es Soli, die lang genug waren, ihre Kunst nuanciert und improvisierend vorzustellen.
Über die Songs „At Night“ und „Furniture“ erfuhren wir nach kurzer Erklärung der Enstehung, dass sie von Charlotte Illinger geschrieben wurden. Da kam sie dann doch noch : eine Ballade – mit dem ruhigen „At Night“. Ein schöne, nicht einfache Komposition mit interessant verwinkelter Melodie. Charlotte interpretierte eindringlich, klangsinnlich und warm. Cari Hermes vertiefte die „Nachtstimmung“ mit ihren tieftönenden, samtdunklen Bastupfern. „Furniture“ist ein elegant swingender Song, mit lässigen Scat-Passagen und viel Bass und Saxophon.
An berühmten Titeln interpretierte das Charlotte Illinger Quartett auch “I Wish You Love“ und „A House Is Not A Home“ in eigenständigen, modernen Jazzversionen. Das wunderschöne Intro von “I Wish You Love“ (wer es von Barbra Streisands französischem Album kennt, wird es ewig im Ohr haben!) beließ Charlotte in seiner herkömmlich melodiösen Art – aber dann fährt moderat der Jazz-Zug ab, gutgelaunt und mit viel Vocalese bestückt.
Die Ballade „A House Is Not A Home“ (Burt Bacharach) wurde schon von den berühmtesten Popsängern und Jazzstars seit den 1960s immer wieder interpretiert. Ist es doch eine so große Melodie mit Dramapotenzial, weswegen das Stück auch häufig mit übersteigerter Hingabe gesungen wurde. Bei Charlottes Version ist der Song kaum wiederzuerkennen: sie entschlackt ihn von jeglicher Sentimentalität, vom Liebesschmerz und versetzt die musikalischen Akzente der Melodie. Die betörende Schönheit der Komposition muss weichen durch andauernden, Rhythmuswechsel. Paul Hellers Saxophon eskaliert förmlich in den rasenden Kaskaden seines Spiels.
Bei Charlotte Illingers Auftritt sieht man an ihrer Körpersprache, wie sehr sie während des Singens total „im Song“ ist. Sie macht zwar nur wenige Bewegungen, diese verdeutlichen aber immer ihre Konzentration und Verschmelzung mit der Musik. Nichts an ihrer Performance, keine noch so schräge Phrasierung wirken aufgesetzt.
Ich sehe in ihr eine ernstzunehmende, vielversprechende Jazzvokalistin. Man fühlt als Zuhörer: Charlotte liebt den Jazz und sie ist absolut authentisch. Positiv anzumerken ist auch, dass ihr Gesang live im Konzert sogar noch überzeugender klingt, als auf dem ersten, wirklich gutem Album. Obwohl die Studioaufnahme ja alle Möglichkeiten des perfekten Klangs und die Wahl der besten Takes bietet, war hier ihr Konzert überlegen. Die CD „But Beautiful“ empfehle ich aber wärmstens, weil sie neben einem Konzert die nächstbeste Gelegenheit ist, das fabelhafte Charlotte Illinger Quartett kennenzulernen.